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Visuelle Wahrnehmung

Als visuelle Wahrnehmung (auch Sehsinn) bezeichnet man eine Sinneswahrnehmung von Lebewesen, mit der Licht, also bestimmte elektromagnetischer Wellen wahrgenomen werden kann. Das für Menschen sichtbare Licht hat Wellenlängen von etwa 380 nm bis 760 nm und wird von ultraviolett beziehungsweise infrarot begrenzt. Die Empfindlichkeit ist dabei zwischen 550 nm und 600 nm am größten, also im gelbgrünen Farbbereich. Die für andere Lebewesen erkennbaren Spektralbereiche unterscheiden sich teilweise erheblich.

Säugetiere

Auf der Netzhaut im Auge befinden sich neben anderen Sinneszellen Millionen von Photorezeptoren, die auf die einfallenden Lichtstrahlen reagieren und die Reize über nachgeschaltete Zellen und den Sehnerv als elektrische Signale an das Gehirn weiterleiten. Die Photorezeptoren setzen sich aus zwei Zelltypen zusammen: den Stäbchen und Zapfen. Mithilfe der Stäbchen können wir hell-dunkel sehen (Eselsbrücke: Stäbchen = Dämmerungssehen), die Zapfen ermöglichen das Sehen von Farben (Eselsbrücke: Zapfen = Farbsehen), wobei auf die drei Grundfarben rot, grün und blau angesprochen wird.

Wenn Licht auf die Netzhaut fällt, passiert folgendes: In jedem Photorezeptor sind sogenannte Sehfarbstoffe eingelagert, die sich beim Auftreffen des Lichts zersetzen. Diese Zersetzung löst einen Impuls aus, der in den Rezeptoren eine Aktivitätsänderung bewirkt, welche von den nachfolgenden Zellen wahrgenommen und verarbeitet wird, um das Signal dann zum Hirn zu leiten.

Bei der menschlichen Wahrnehmung wird zwischen einem Bereich des unscharfen (peripheres Sehen) und eines scharfen Gesichtsfeldes (foveales Sehen) unterschieden. Welche Gesichtsfelder andere Säugetiere besitzen ist nicht für jede Art im Detail bekannt.

Dabei muss es sich hierbei nicht zwangsläufig um Wellen im Nanometer-Bereich also Licht handeln. Fledermäuse beispielsweise sehen im Ultraschallbereich. Entscheidend ob von Sehen gesprochen werden kann ist vielmehr die Tatsache, ob die durch entsprechende Rezeptoren gewonnenen Reize zu einem Bild zusammen gesetzt werden können.

Tag- und Nachtsehen

Wegen der unterschiedlichen spektralen Empfindlichkeit der Stäbchen und Zapfen, wie sie durch die V(lambda)-Kurve beschrieben ist, ergibt sich der sogenannte Purkinje-Effekt: das menschliche Auge ist im Bereich des Nachtsehens (das heißt dunkeladaptiert, also bei geringer Beleuchtungsstärke) blauempfindlicher als beim Tagsehen. Daneben verlangsamt sich beim dunkeladaptierten Auge die Reizverarbeitung, der Seheindruck wird "träger", diese physiologische Besonderheit bewirkt den Pulfrich-Effekt.

Farbwahrnehmung

Besonderes Augenmerk beim Menschen verdient die Farbwahrnehmung, die die drei Dimensionen Farbton, Helligkeit und Sättigung unterscheidet. Siehe Artikel Farbwahrnehmung.

Räumliches Sehen

Beim Sehen mit zwei Augen gewinnen die meisten Menschen aus den beiden sich überlappenden Bildern räumliche Informationen. Menschen sehen im Nahbereich deshalb nicht in der Art der Zentralperspektive, sondern rechnen die Bilder entsprechend um und sehen ein räumliches Bild. Dabei erscheinen parallele Linien in der Nähe weitgehend parallel, obwohl sie nach der Zentralperspektive aufeinander zu laufen müssten. Naive Maler malen oft in "umgekehrter Perspektive", nähere Strecken erscheinen im Nahbereich kürzer, als weiter entfernte. Es handelt sich in diesem Fall nicht um eine optische Täuschung im eigentlichen Sinne, sondern um eine Eigenschaft des zweiäugigen räumlichen Sehens.

Der kognitive visuelle Wahrnehmungsprozess

Visuelle Eindrücke werden vom menschlichen Gehirn in der Phase der Kognition in drei Schritten bewusst verarbeitet:

  1. Globalauswertung. Mit dem ersten Blick auf ein Bild oder eine Szene konzentriert sich der Betrachter darauf, einen Gesamteindruck der Szene zu gewinnen. Die visuelle Information wird dabei kategorisiert (z.B. "Landschaft", "Person", ...) und einem Schema aus dem Erfahrungsschatz des Betrachters zugeordnet, das zum weiteren Verständnis benutzen wird. So erfolgt z.B. die Auswertung von Zeichnungen oder Texten mit völlig anderen Mitteln als die Auswertung einer dreidimensionalen Szene.
  2. Detailauswertung. Nachdem der Betrachter sich einen Gesamteindruck verschafft hat, führt er eine Grobabtastung durch. Dazu lenkt er seinen Blick - oft aber nicht zwingend der Leserichtung folgend - über die Szene und ordnet die wahrgenommenen Informationen in das bereits aktivierte Schema ein oder nimmt im Bedarfsfall eine Neukategorisierung vor. Nach dieser Grobabtastung lenkt der Betrachter seinen Blick auf Bildbereiche, die visuell hervorstechen, z.B. durch Bewegung, Farbkontraste oder die Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund.
  3. Elaborative Auswertung. Erst jetzt aktiviert der Wahrnehmende ein Modell zur Übersetzung der visuellen Information in ein mentales Modell, welches für seine reale Problematik und die zu lösende Aufgabe geeignet scheint. Die Betrachtung wird nun zielorientiert und konzentriert sich auf diejenigen Details, die zum Aufbau des mentalen Modells benötigt werden, z.B. das Gesicht oder die Geschlechtsmerkmale einer Person. Unwichtige Details werden bei diesem Vorgang ausgeblendet, im mentalen Modell nicht berücksichtigt und daher auch nicht bewusst wahrgenommen. Dieser letzte Schritt ist sehr individuell; Auswahl und Reihenfolge der berücksichtigten Details werden durch Übung und Erfahrung optimiert. Eine ausführlichere Beschreibung des mentalen Modells findet sich unter Wahrnehmungspsychologie.

Weitere Informationen über die Augenbewegungen in Verbindung mit dem Wahrnehmungsprozess finden sich unter Blickbewegung. Der Wahrnehmungsprozess beim Lesen wird im Artikel Lesen ausführlicher dargestellt.

Sehen bei anderen Lebewesen

Die bloße Möglichkeit, Licht wahrzunehmen, besitzen bereits Pflanzen, jedoch kann hier nicht von Sehen gesprochen werden, da diese nicht in der Lage sind, Farben und Strukturen zu differenzieren. Die Art und Weise, wie Lebewesen sehen, ist dabei sehr unterschiedlich in Bezug auf die Gestaltwahrnehmung, das Sehen von Farben (Wellenlängen), die Auflösung und die Fähigkeit zum räumlichen Sehen (Stereoskopie).

Die Fähigkeit zu Sehen ist dabei besonders deshalb für Lebewesen von Interesse, da es ihnen hilft, sich in ihrer Umgebung zu orientieren, denn die Umgebung wird aufgrund von Reflexionen und Brechungen von Licht sichtbar.

Ein völlig anderes Sehen weisen Insekten und Krebse auf, die über so genannte Facettenaugen verfügen; dabei ist beispielsweise das Bienenauge in rund 5000 Teilaugen, die Ommatidien, aufgeteilt; nach Karl von Frisch können Bienenaugen ultraviolettes Licht sehen, nicht dagegen rotes. Bienen besitzen neben dem Facettenauge außerdem noch ein weiteres visuelles Wahrnehmungsorgan, das Punktauge (auch Stirnauge oder Ocellen), das als Lichtmesser der Feststellung der absoluten Tageshelligkeit dient.

Klapperschlangen und andere Grubenottern können durch ein "Wärmestrahlenauge" infrarotes Licht, also Wärmestrahlung wie Körperwärme sehen. Vermutlich besitzen dieses visuelle Sinnesorgan auch Mücken und Nachtschmetterlinge.

Siehe auch

  • Wahrnehmung, Sehereignis
  • multistabile Wahrnehmung
  • Kognition und Konstruktion
  • Wahrnehmungsphysiologie
  • Visueller Kortex
  • Inattentional Blindness

Literatur

Zur Sinneswahrnehmung bei Tieren:

  • Vitus B Dröscher: Magie der Sinne im Tierreich. München 1966 (3. Aufl., München 1984). ISBN 3-423-011-26-2

Zur visuellen Wahrnehmung beim Menschen:

  • Lothar Kleine-Horst: Evolutionär-psychologische Theorie des Sehens. Köln, 1992 ISBN 3-928955-40-3

Zur Psychosomatik des Sehens:

  • Ilse Strempel, Das andere Augenbuch. Seele und Sehen - ein Leitfaden für Betroffene, KVC Verlag (Karl und Veronica Carstens-Stiftung) Essen 2004

Weblinks

Wahrnehmung, Schönheit & Kunst (Juni 2003; PDF-Datei, 1,5 MB)