GestaltwahrnehmungDie Gestaltpsychologie entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wurde eine einflussreiche Richtung zuerst in der deutschsprachigen, dann auch in der internationalen Psychologie. Als ihre Begründer und Hauptexponenten gelten Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka (alle drei Studenten von Carl Stumpf sowie im weiteren Sinn auch Kurt Lewin). Die Ergebnisse der Gestaltpsychologischen Experimente wurden zu einer metaphysischen Weltanschauung, der sog. Gestalttheorie ausgebaut. Klassische GestaltpsychologieIn der älteren Gestaltpsychologie vom Anfang des 20. Jahrhundert wird "Gestaltgesetz" synonym mit "Gestaltfaktor", "Faktor", "Gesetz" oder auch mit "Gruppierungsgesetz" verwendet. Ein Gestaltgesetz bezeichnet die Art des Zusammenschlusses von erlebten Teilen zu einer erlebten Ganzheit, oft eben einer Gruppe von einzelnen Gegebenheiten. "Der Zusammenschluß erfolgt derart, daß die entstehenden Ganzen in irgendeiner Weise vor andern denkbaren Einteilungen gestaltlich ausgezeichnet sind", und zwar u. a. so, "daß möglichst einfache, einheitliche, ...geschlossene, ..symmetrische, ...gleichartige Ganzgebilde entstehen." (Wolfgang Metzger 1954, S. 108 f). Für diese und einige andere Arten des Zusammenschlusses wurden viele anschauliche Beispiele zusammengetragen, die den Betrachter unmittelbar überzeugen. Bestimmte Fakten wurden klassifiziert, so dass man von einer deskriptiven Theorie sprechen kann; eine erklärende Theorie für sie wurde jedoch nicht entwickelt. Gestaltgesetze
GestaltqualitätGestaltqualität ist ein einzelner Erlebensaspekt einer Gestaltwahrnehmung. Der Ausdruck stammt vom Philosophen Christian von Ehrenfels, auf dessen Abhandlung von 1890 die Entstehung der Gestaltpsychologie zurückgeführt wird. Die Gestaltqualität kann einfach oder komplex sein. Ihr liegt ein System von Beziehungen zugrunde; Beispiel: die Melodie, die auf einer bestimmten Anordnung von Tönen beruht. Es werden drei Arten von Gestaltqualitäten des Wahrnehmungserlebens unterschieden (Metzger 1954, S. 62-65), ohne innerhalb dieser Arten eine Systematik anzugeben:
Neue GestaltpsychologieEnde des 20. Jahrhunderts wurde eine erklärende empiristische Theorie der visuellen Gestaltwahrnehmung vorgestellt. In ihr werden die Fakten, die zu den o. a. "Gesetzen" geführt haben, anerkannt, nicht aber die früheren Versuche ihrer Interpretation. Die Neue Gestaltpsychologie unterscheidet streng zwischen Gestaltfaktor und Gestaltgesetz. Der Gestaltfaktor ist eine Gegebenheit der Funktionalen Seinsweise auf der psychischen Evolutionsstufe. Ein Gestaltgesetz ist die definierte Wirkung des einen Gestaltfaktors auf einen anderen. Der neuen Gestaltpsychologie zufolge ist eine Gestaltwahrnehmung nicht ausschließlich aus der Lichtstärke (Leuchtdichte), der Wellenlänge des Lichts, dem Ort der gereizten Netzhautstelle und dem Zeitpunkt der Reizung erklärbar. In diesem Sinne ist es eine Gestaltwahrnehmung, eine "Linie" zu sehen oder die "Zweiheit" von Gegenständen wahrzunehmen. Ebenso ist es eine Gestaltwahrnehmung, "blau" zu sehen, wenn das Licht die Wellenlänge von 550 nm hat, denn bei dieser Wellenlänge müsste man, wenn die Wahrnehmung allein auf der Sinnesfunktion der Sehzellen beruhte, "grün" wahrnehmen. Gestaltwahrnehmung beruht nach dieser neuen Sicht auf der Wirkung einer 10-stufigen Hierarchie von 25 spezifischen psychischen, d.h. individuell erworbenen, Gestaltfaktoren, die bei ihrer Aktualisierung ihre spezifischen Gestaltqualitäten ins stets ganzheitliche Perzept geben. Da die Gestaltfaktoren miteinander in Wechselwirkung stehen, ergibt sich eine große Zahl von gegenseitigen Einflussbeziehungen (Gestaltgesetzen), die zu so genannten "Wahrnehmungstäuschungen" führen können.
GestaltfunktionenAls Gestaltfunktionen werden seit Ende des 20. Jh. in der "Neuen Gestaltpsychologie" des Sehens die beiden antagonistischen Ausprägungen eines Gestaltfaktors bezeichnet, denen die beiden polaren Ausprägungen ("Gestaltqualitäten") der spezifischen Qualitäts-Dimension des Gestaltfaktors entsprechen. Jeder der 17 Gestaltfaktoren der untersten 5 visuellen Hierarchiestufen agiert in zwei antagonistischen Gestaltfunktionen, die ihre spezifischen polaren Gestaltqualitäten ins stets ganzheitliche Perzept geben. Als Beispiel diene die Wahrnehmung des "Mondes am Himmel": Auf der 5. Stufe der funktionalen visuellen Hierarchie ist der Geschlossenheitsfaktor (mit dem Symbol "Fl") angesiedelt; er läßt die Umschlossenheit (Geschlossenheit) des kleinen hellen "Infeldes" durch eine Grenzlinie ("Kontur") sowie die Geschlossenheit auch dieser (Hell-Dunkel-) Grenzlinie selbst erleben. Kontur und Infeld bilden eine erlebte Einheit bzw. Ganzheit, die "Figur"; das große dunkle "Umfeld" jenseits der Kontur umschließt seinerseits die Figur. Da die Umschließungskontur als zum Infeld und nicht zum Umfeld gehörig erlebt wird, wird das Umfeld selbst als "offen" wahrgenommen. Das heißt: der Gestaltfaktor Fl bewirkt ein Doppelerlebnis: das der Geschlossenheit (der Figur, des Infelds, der Kontur) und das der Offenheit (des Umfeldes). "Geschlossen" und "offen" sind polare Gestaltqualitäten, die zwar "entgegengesetzt" sind und dennoch zusammengehören; denn es gibt keine Figur ohne "ihr" Umfeld, und es gibt kein Umfeld ohne "seine" Figur. Diese polaren Gestaltqualitäten der phänomenalen Seinsweise werden den in der funktionalen Seinsweise gelegenen antagonistischen Gestaltfunktionen Fl+ für Geschlossenheit und Fl- für Offenheit als ihren Bedingungen zugeordnet. Geschlossenheits- und Offenheits-Erleben auf der 5. Hierarchiestufe bezieht sich auf das in der 4. Hierarchiestufe erzeugte Erleben von "Linie" (Ll+) und "Feld" (Ll-). Literatur
Siehe auchAktualgeneseFarbe (bes. Psychologische Wirkung) Optische Täuschung Schlüsselreiz Machsche Streifen Weblinks
Beispiele für Gestaltwahrnehmungen |